Soziale Diagnostik wozu?

Die Rede von Diagnostik war im Diskurs der Sozialen Arbeit lange Jahre verpönt. Sie schien geradezu paradigmatisch zu sein für die Verlagerung der Aufmerksamkeit von den gesellschaftlichen Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnissen auf vermeintliche persönliche Defizite der AdressatInnen – also für genau das, was man als Therapeutisierung beschreiben kann. Unvergessen der Vorwurf, es handle sich bei Diagnostik um nichts anderes als um üble Nachrede. Diese pointierte Einschätzung basierte auf dem in den Sozialwissenschaften, vor allem der Kriminologie, weit rezipierten „Labeling Approach“, der die negativen Folgen der Etikettierung von Personen oder deren Verhalten als abweichend durch Instanzen der sozialen Kontrolle für die davon Betroffenen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte. So besehen musste jede Diagnose als Rechtfertigung von Ausschluss verstanden werden. 

Mit dem Projekt der Sozialen Diagnostik soll der Fokussierung auf die Personen und deren vermeintliche Defizite ein anderer Blick hinzugefügt und/oder entgegengesetzt werden. Das Projekt kommt aus der Sozialarbeitswissenschaft, aber es bedient sich bei zahlreichen Vorarbeiten aus der Psychologie, etwa der Gemeindepsychologie, der demokratischen Psychiatrie, aus der Forschung über unterstützende Netzwerke, der Ethnographie und Soziologie. Nutzbar soll es nicht nur für SozialarbeiterInnen sein. Das Ziel ist, den Faktor des Sozialen in der Sozialarbeit und Sozialpädagogik, aber auch für andere Berufe im Sozial- und Gesundheitswesen fassbar zu machen und zu ermöglichen, dass er bei der Unterstützungsplanung gleichberechtigt neben psychologischen, psychiatrischen, pädagogischen und medizinischen Aspekten Berücksichtigung findet.

Die Komponente des „Sozialen“ gewinnt im Verständnis der Faktoren für ein Wohlergehen von Menschen auch unter den Bedingungen von Krankheit und Behinderung wachsende Beachtung. Es liegen viele diagnostische Instrumentarien vor, um Person-Person-Beziehungen und Beziehungs- und Austauschnetzwerke abzubilden und zu analysieren. Die für die Lebens-Chancen essenziellen Möglichkeiten der Individuen, die überregional arbeitsteilig organisierte gesellschaftliche Infrastruktur zu nutzen, entziehen sich aber dieser Betrachtung. Mit dem Instrument des Inklusions-Chart (IC3) wird ein Verfahren bereitgestellt, das diese Lücke füllt und aufbauend auf eine sozialarbeitswissenschaftliche Perspektive in einem mehrdimensionalen Unterstützungsarrangement auf einer theoretisch konsistenten Basis relevante Fakten abbildet und für kooperative Interventionsentscheidungen verfügbar macht.

Unter den zahlreichen möglichen Verfahren der Sozialen Diagnostik hat das Inklusions-Chart eine hervorgehobene Rolle. Wie kein anderes Verfahren macht es die Stellung von Personen in der gesellschaftlichen Welt, ihre Teilhabemöglichkeiten, den Stand ihrer Existenzsicherung und ihre Handlungsmöglichkeiten kompakt sichtbar. So ist es ein zentrales Mittel zur Erfassung der sozialen Situation und zur Planung von Unterstützungsprozessen. Diese Website widmet sich der Weiterentwicklung dieses Verfahrens für die Soziale Arbeit.

 

Weitere Verfahren finden Sie auf www.pantucek.com bzw. in: Peter Pantucek (2012): Soziale Diagnostik. Verfahren für die Praxis Sozialer Arbeit. Böhlau: Wien/Köln/Weimar.