Versionsgeschichte

Inklusions-Chart: Vom IC3 zum IC4

Mit dem Inklusions-Chart, das hier in der bereits vierten Version vorgestellt wird, wurde ein Instrument entwickelt, mit dem die wesentlichsten Daten zur Lebenslage der KlientInnen eingeschätzt und zur Grundlage eines gut ausgewiesenen Unterstützungsdesigns gemacht werden können.

Die Achsen kartographieren drei relativ selbständige Perspektiven und Interventionsräume der Sozialen Arbeit: Die Teilnahme am gesellschaftlichen Austausch (Inklusion/Exklusion) auf Achse 1, das Niveau der Existenzsicherung auf Achse 2, und Aspekte der Funktionsfähigkeit auf Achse 3. Es wird jeweils ein allgemeiner Maßstab für das Ausmaß der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und Austausch angewendet. Das IC4 ist somit für eine kompakte Diagnostik der Lebenslage als Ausgangspunkt für Hilfeplanung gut geeignet. Gleichzeitig eröffnet es die Möglichkeit aussagekräftiger statistischer Auswertungen, die Aussagen über die Lage von Zielgruppen Sozialer Arbeit und über größerräumige Exklusionsprozesse zulassen. Es bildet so auch menschenrechtrelevante Parameter ab.

Das Inklusions-Chart (IC) hat einen langjährigen Entwicklungsprozess hinter sich und wurde im Laufe der Jahre auf der Basis von Anwendungserfahrungen kontinuierlich verbessert. Während die erste Version 2005 sich noch auf die jetzige Achse 1 beschränkte, wurde die Version IC2 auf die jetzt vorliegende Grundstruktur mit 3 Achsen erweitert. Die Version IC3 als Ergebnis eines kooperativen Forschungsprozesses der FH St. Pölten mit Organisationen der Sozialen Arbeit aus verschiedenen Feldern brachte vor allem eine Verbesserung der Nomenklatur, um die Gefahr von Missverständnissen bei der Anwendung zu verkleinern.

Die nunmehr fertiggestellte Version IC4 ist das Resultat eines komplexeren Prozesses der kontrollierten Erprobung und theoretischen Diskussion. Am Anfang standen Versuche, das Instrument für die Verwendung mit Personengruppen anzupassen, die aufgrund bestimmter Merkmale (zum Beispiel Alter oder Aufenthaltsstatus) von manchen Teilhabemöglichkeiten a priori ausgeschlossen sind. Es wurde von Arbeitsgruppen versucht, Spezialversionen für die stationäre geriatrische Versorgung, für Jugendliche oder für AsylwerberInnen zu erstellen. Diese Versuche gediehen unterschiedlich, zu einer vorläufigen und veröffentlichten Vollversion führten sie nur bei Flüchtlingen.[1] Die dabei auftretenden praktischen und theoretischen Probleme waren jedoch Anlass, die Arbeit an einer grundlegenden Überarbeitung des Instruments zu beginnen. Dafür wurde ein Board[2] eingesetzt, der vorerst die Konstruktion einer Version anstrebte, die Grundlagen für die Erstellung von zielgruppenspezifischen Versionen bei Aufrechterhaltung der Kompatibilität mit der allgemeinen Version formulieren sollte. Im Laufe der Diskussionen stellte sich jedoch heraus, dass das ein Weg wäre, der mehr Probleme generiert, als er zu lösen imstande ist. Man entschied sich für eine Überarbeitung des Instruments und dafür, zielgruppenspezifische Manuals und Ausfüllhilfen zu produzieren, die auf feldspezifische Fragen eingehen.[3]

Auf die Bereitstellung feldspezifischer Versionen wurde nach langer Diskussion verzichtet. In der Entwicklung ebensolcher stellte sich heraus, dass diese letztlich zu ähnlichen Ergebnissen kommen, die nun mit den Spalten der stellvertretenden sowie unterstützen Inklusion abgebildet werden sowie der neu hinzugefügten Zeile auf Achse 1 des „Rechtsstatus“.  Es wird jedoch empfohlen, feldspezifische Manuals herzustellen bzw. Ausfüllhilfen anzubieten. Hierzu bieten sich Testläufe und Workshops an, die das generalistische Manual mit spezialisierten Beispielen ergänzen.

Mit der nun vorliegenden 4. Version wird eine Antwort auf einige Anwendungsprobleme versucht:

  • Für Populationen, die aus bestimmten Funktionssystemen systematisch ausgeschlossen sind, stehen Systeme der „stellvertretenden Inklusion“ zu Verfügung, das sind Surrogate für die echte Inklusion. Diese stellvertretende Inklusion (z.B. sog. Ein-Euro-Jobs oder überbetriebliche Lehrwerkstätten), hat einen ambivalenten Charakter. Sie schafft einen separaten Sektor und ist daher Zeichen für Exklusion, kann beschämend sein und die soziale Adresse nachhaltig beschädigen. Andererseits kann sie auch (z.B. als Übergangsmodell) eine Hilfe zur späteren Inklusion oder eine akzeptable Alternative zu einer völligen gesellschaftlichen Isolation darstellen.[4]
  • Mitunter ist das bestehende Ausmaß von Inklusion und damit die Möglichkeit des Zugangs zu den Leistungen eines Funktionssystems im gegebenen Ausmaß nur auf der Basis von Unterstützungsleistungen durch das Sozialsystem möglich – wie es bei früheren Versionen auf Achse 2 schon beim Niveau der Existenzsicherung abgebildet wurde.

Bei der 4. Version des IC wurden daher einige Änderungen vorgenommen:

  • Die Überschrift der Achse 1 wurde von „Funktionssysteme“ auf „Inklusion in Funktionssysteme“ umbenannt, die Spalte „Inkludierungsgrad“ auf „Teilhabe“.
  • Die Dimension „lebensweltlicher Support“ wurde aus der Achse 1 herausgenommen und als 4. Kategorie auf der Achse 2 – Existenzsicherung hinzugefügt. Damit wird eine theoretische Inkonsistenz bereinigt, zumal es sich bei den hier angesprochenen Person-Person-Beziehungen um kein gesellschaftliches Funktionssystem handelt und diese auch nicht in der Diade Inklusion/Exklusion aufgehen. 
  • Auf Achse 1 wurde die Zeile „Rechtsstatus“ hinzugefügt als die Teilhabe in anderen Bereichen wesentlich strukturierender Faktor.

    • In den früheren Versionen wurde davon ausgegangen, dass Merkmale, die unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen Erschwernisse bei der Inklusion zur Folge haben können (mangelnde Beherrschung der Verkehrssprache, Aufenthaltsstatus etc.) ohnehin in den Grunddaten verzeichnet sind und im Falle z.B. einer statistischen Auswertung beliebig kombiniert werden können. Eine Aufnahme dieser Daten in das Chart selbst wurde abgelehnt, um nicht den Anschein zu erwecken, solche persönlichen Merkmale seien bereits eine hinreichende Begründung für Exklusion. Aus dem gleichen Grund steht im IC die Achse 3 (Funktionsfähigkeit) am Schluss und nicht am Anfang. Aspekte der Funktionsfähigkeit sind relevant, um die Handlungsmöglichkeiten und Chancen einzuschätzen, insofern spielen sie bei der Unterstützungsplanung eine Rolle. Sie sind aber keine hinreichende Begründung für einen Status der Exklusion.
    • Die Aufnahme der Dimension „Rechtsstatus“ an prominenter erster Stelle ist Resultat der Auseinandersetzung mit der Situation von Personen, bei denen der Versuch, einen akzeptablen Rechtsstatus (Asylgewährung, Aufenthaltsberechtigung, Staatsbürgerschaft, volle Geschäftsfähigkeit, Annullierung von Vorstrafen) zu erlangen, ganz oben auf der Agenda steht. Es handelt sich hierbei um kein Persönlichkeitsmerkmal, sondern man kann das als Inklusion/Exklusion in Bezug auf das staatliche System der Verwaltung und des Rechts, als Möglichkeit der Teilhabe am rechtlichen Schutz des Staates verstehen.
  • Die Dimension „Kommunikation“ auf Achse 1 wurde umbenannt in „Adressierbarkeit“, da die Formulierung sich als missverständlich erwiesen hat. Damit geht eine Präzisierung der Definition einher.
  • Die Änderung bei den Dimensionen auf Achse 1 bedingen auch eine neue Nummerierung. So ist zum Beispiel „Arbeitsmarkt“ unter 1.B zu finden, nicht mehr unter 1.A. Analog die anderen Dimensionen.
  • Auf der Achse 1 wurden 2 Spalten hinzugefügt, die vor allem für Personen in prekären Lebensverhältnissen oder mit einer sehr ungünstiger Ausgangslage bedeutend sind: Die Spalte „Inklusion unterstützt“ und die Spalte „stellvertretende Inklusion“.
    • Unterstützt ist Inklusion dann, wenn der Status der gegenwärtigen Teilhabe durch spezifische Leistungen oder Unterstützungsarrangements erreicht wurde und somit auch von diesen abhängig ist.
    • Stellvertretende Inklusion umfasst all jene Bereiche, welche exkludierten Personen alternative Systeme erschaffen. Markiert wird hier mittels Ampelsystem, ob es sich hier um dauerhafte, Exklusion weiter verfestigende Arrangements handelt (rot) oder ob es sich um temporäre, die Teilhabechancen verbessernde Kontexte handelt.
  • Die auf allen Achsen vorhandene Spalte „Interventionen“ wurde umbenannt in „Aktionen“.
    • Missverständnisse, dass es sich dabei nur um „Interventionen“ der Professionellen handeln könnte, sollen dadurch verhindert werden.
  • Auf Achse 2 wurde die Dimension „Lebens-Mittel“ in „Güter des Alltags“ umbenannt.Den Dimensionen wurden auf allen Achsen jeweils Grafik-Icons beigefügt.

    • Damit wird einem häufigen Missverständnis begegnet, bei dem aus „Lebens-Mittel“, was in einem weiteren Sinne gedacht war, der engere Begriff „Lebensmittel“ wurde.
    • Die Bezeichnung „Güter des Alltags“ ist auch nicht voll zufriedenstellend. Die Dimension sollte alle materiellen Seiten der Ausstattung des Lebensvollzugs umfassen – ausgenommen jenes Rückzugs- und Schutzraums, der unter „Wohnen“ gefasst wird, der aber auch der Ausstattung mit persönlichen Gegenständen bedarf. Siehe dazu die Erläuterungen im Manual.
    • Das Formular wird nun nicht mehr im Word-Format, sondern als Excel-Datei zur Verfügung gestellt. Eine Spinnennetzgrafik zur Visualisierung der Lebenslage kann so als Standard bereitgestellt werden.

  • Die Skalierung der Teilhabe wird durch eine farbige Hinterlegung anschaulicher.
  • Die Skalierung der Tendenz erfolgt nicht mehr durch Zeichen (<, =, >, >>!), sondern wird in Zahlen eingetragen und automatisch mittels bedingter Formatierung in nun anschaulichere Icons konvertiert.

  • Ein ähnliches System wird bei den neuen Spalten „unterstützte Inklusion“ und „stellvertretende Inklusion“ angewendet: Unterstützte Inklusion wird mit einem Plus-Zeichen (+) markiert und in der Informationsspalte ausgeführt. Insofern dies nicht zutrifft, bleibt die Spalte frei. Stellvertretende Inklusion wird mittels Ampelsystem markiert hinsichtlich ihres Grades an Ermöglichung (grün) oder Erschwerung (rot) von Inklusionschancen. Bei einer schwer abzuschätzenden Ambivalenz steht eine Zwischenstufe (gelb) zur Verfügung. Auch hier empfiehlt sich eine Erläuterung in der Informationsspalte. Insofern Inklusion nicht stellvertretend geleistet wird, bleibt die Spalte frei.
  • Auf Achse 2 und auf 3.C erfolgt der Eintrag des Ausmaßes der Substitution weiterhin durch Prozentzahlen, diese werden nach Eingabe automatisch in eine kleine Tortengrafik umgewandelt, die allerdings nur 5 Ausprägungen aufweist. Das ist gewünscht. Die Prozentangabe könnte sonst zu Pseudogenauigkeiten verleiten, sie soll aber vor allem ein Gespür für ein ungefähres Maß vermitteln. Gut bewährt hat sich hier in der Praxis die Verhandlung der Bedeutungen der jeweiligen Angaben für das jeweilige Handlungsfeld im Team.[5][GE1]  
  • Die Skalierungen auf Achse 3 werden nun ebenfalls in Zahlenwerten auf einer Skala von 1 bis 4 eingegeben und automatisch in eine Grafik umgewandelt.
  • Die Felder, in denen die Skalierung nach der GAF-Scale eingetragen wird, zeigen nach dem Eintrag nun in einem Farbbalken eine Visualisierung der eingegebenen Werte.

  • Einer umfangreichen Überarbeitung wurde das Manual unterzogen. Die Erfahrungen mit der Anwendung in verschiedenen Praxisfeldern wurden dabei umfassend eingearbeitet.
  • Der Umfang des Formulars hat sich nicht wesentlich verändert, es besteht nach wie vor hauptsächlich aus zwei DIN A4 Seiten, die bei Bedarf auch ausgedruckt und von Hand ausgefüllt werden können. Optisch wurde die neue Entwicklungsstufe nicht nur durch neue Icons, sondern auch veränderte Farbgebung  gestaltet:

Formular und Manual werden hier zur Verfügung gestellt. gestellt. Wir freuen uns auf erste Rückmeldungen!


[1] vgl. Baron et al. 2015.
[2] Diesem Board gehören Personen aus dem Hochschulbereich und aus verschiedenen Praxisfeldern an. Kontinuierlich im Board mitgearbeitet haben Peter Pantuček-Eisenbacher und Eva Grigori (St. Pölten), Peter Lüdtke (Berlin), Angelika Neuer und Dunja Gharwal (Wien). Diese Personen können als die AutorInnen des IC4 gelten. Ein Dank gilt allerdings auch den zahlreichen Studierenden und PraktikerInnen der Sozialen Arbeit, die im Zuge von Bachelorarbeiten bzw. Erprobungen im Feld eine Fülle von Anwendungserfahrungen, Hinweisen und Vorschlägen eingebracht haben, ohne die das Projekt nicht den jetzigen Reifegrad erreichen hätte können.
[3] Parallel zur Arbeit des Boards wurde in einem von Eva Grigori geleiteten Projekt mit Studierenden die Anwendung in der Offenen Jugendarbeit sowie in ausgewählten Fremdunterbringungssettings nach dem neuen Modell erprobt.
[4] Scherr (2015) weist zu Recht darauf hin, dass Inklusion nicht immer die beste und anstrebenswerte Option ist. Das gilt umso mehr für „stellvertretende Inklusion“. Weitgehende Inklusion ist politisch zwar die Lösung, nicht aber immer individuell, weil die Bedingungen der Inklusion desaströs sein können.[5] Ein Beispiel aus einer stationären sozialpsychiatrischen Einrichtung zur Dimension „Güter des Alltags“: „25%: Wird angegeben, wenn die benötigten Mittel nicht durch eigene Leistung erbracht werden, sondern durch Ersatzleistungen. (Grundsicherung, Sozialhilfe, Arbeitslosengeld), 50%: Unterstützung durch ges. BetreuerIn/SachwalterIn, 75%: ges. Betreuer / Sachwalterschaft plus Einwilligungvorbehalt (eingeschränkte Geschäftsfähigkeit), 100%: sogenannte „totale Einrichtungen“ aber auch vollstationäre Einrichtungen bei denen Personen nur noch über ein Taschengeld verfügen (ca 105 €) und von diesem noch Schulden abbezahlt werden sowie ges. Betreuer / Sachwalterschaft plus Einwilligungsvorbehalt (eingeschränkte Geschäftsfähigkeit) , wenn die Versorgung über Dienste und/oder sehr kleinteilige Geldeinteilung erfolgt“ (Peter Luedke).