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Die Entwicklung des Inklusions-Charts. Prozess – Praxis – Terminologie.

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Peter Pantuček-Eisenbacher, im Jänner 2017

Das Inklusions-Chart nimmt eine Sonderstellung unter den sozialdiagnostischen Verfahren ein. Es ist in einem mehr als 10-jährigen Prozess des Dialogs von Wissenschaft und Praxis zu seiner jetzigen Version 4 entwickelt worden. Dieser Text soll den Entwicklungsprozess verständlich machen und Hinweise darauf liefern, welche Überlegungen bei den jeweiligen Änderungen leitend waren.

Zum Entwicklungsprozess

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Die Entwicklung des IC erfolgt in einem zirkulären Prozess von Empirie, Theoriebildung und Modellierung. Die Milestones der großen Zyklen sind durch die Veröffentlichungen der Versionen des IC markiert, von Version 1 (2005) bis zu Version 4 (2016). Die Vorarbeiten für die jeweils neuen Versionen durchliefen zahlreiche kleinere Zyklen, bis eine neue Version tatsächlich veröffentlichungsreif war.

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Etwas detaillierter stellt sich der Prozess als Zusammenspiel von Aktivitäten von Praktikerinnen und dem Board dar. Besonders hervorzuheben ist dabei, dass dieser Prozess nicht nur in einem Forschungsprojekt stattgefunden hat, sondern dass zahlreiche Schleifen aufgrund von selbständigen und spontanen Interventionen von PraktikerInnen leben. In der IC-Entwicklung haben zwar auch abgegrenzte Forschungsprojekte ihren Platz gehabt, sie waren aber nicht die alleinigen Treiber der Weiterentwicklung.

Das IC hat daher eine Sonderstellung unter den sozialdiagnostischen Verfahren. Seine Weiterentwicklung wird von PraktikerInnen der Sozialen Arbeit angetrieben, der Board fasst die Initiativen und feldspezifischen Erfahrungen und Überlegungen zusammen und verarbeitet sie zu neuen Versionen und Manuals. Die IC-Entwicklung ist so das seltene Beispiel für eine Kooperation zwischen Wissenschaft und Praxis, die nicht durch die Dominanz der Wissenschaft und ihre Organisationsformen (z.B. drittmittelfinanzierte Forschungsprojekte) vorstrukturiert ist.

Im Zentrum der Entwicklung steht das Instrument, das man als eine Landkarte verstehen kann, in deren Gestaltung sowohl Anwendungserfahrungen als auch theoretische Überlegungen einfließen, die abgeglichen werden und so zu neuen, stets verbesserten Versionen führen.

Aus der Untersuchung von in den Praxisfeldern vorhandenen Formen der Aufzeichnung von strukturellen Falldaten wurde im ersten Durchlauf untersucht, mit welchen theoretischen Zugängen sich die Daten am besten strukturieren ließen. Ein erstes Modell wurde gestaltet und veröffentlicht. Dieses wurde von PraktikerInnen aufgegriffen, in Praxiszusammenhängen verwendet. Zumindest einige der AnwenderInnen meldeten ihre Erfahrungen und Einwände zurück an den Autor. Diese Rückmeldungen führten nach Überlegungen, wie die einmal gefunden theoretische Anbindung aufrechterhalten bzw. angepasst oder erweitert werden kann zu einer zweiten Version, die wieder veröffentlicht wurde. Der Prozess wiederholte sich, diesmal ergänzt durch Forschungsprojekte. Die Veröffentlichung des IC3 war nicht mehr ein so großer Schritt nach vorne, wie jener zwischen den Versionen 1 und 2. Trotzdem zog er eine Ausweitung des Dialogs zwischen Praxis und Hochschule nach sich. Die markanteste Entwicklung war, dass Organisationen (teils in drittmittelfinanzierten Entwicklungsprojekten) und Studierende in Deutschland und Österreich im Zuge von Abschlussarbeiten Versuche starteten, an Adaptierungen des IC für bestimmte Zielgruppen der Sozialen Arbeit zu arbeiten. Das war ein deutlicher Hinweis darauf, dass in Bezug auf Personen, die aufgrund ihres Rechtsstatus, ihres Alters, ihrer besonderen Bedürfnisse einem systematischen Ausschluss von der Nutzung bestimmter Funktionssysteme unterliegen, das IC3 noch ein Zuwenig an Möglichkeiten der differenzierten Erfassung und Darstellung ihrer Lebenslage bot. Sichtbar werden in erster Linie jene Ausschlüsse, an denen im Zuge der individualisierten unterstützenden Arbeit nichts zu ändern ist, während die alternativen unterstützenden Angebote und Aktivitäten unsichtbar bleiben, wo sie nicht direkt zu Inklusion führen. Alltagspraktisch macht es aber sehr wohl einen Unterschied, ob substitutierende Angebote („stellvertretende Inklusion“) zur Verfügung stehen oder nicht, bzw. in welcher Qualität sie zur Verfügung stehen.

Weiterhin gab es eine umfangreiche nicht vom Entwickler begleitete Anwendungspraxis. Punktuell wurden deren Ergebnisse an den Autor rückgemeldet und als Anlass für die Überprüfung des Instruments sowie die Modifizierung des Manuals genommen.

Spätestens nach der Publikation des IC3 war klar, dass die weitere Betreuung der Entwicklung des Instruments nicht mehr wie bisher durch eine Einzelperson – bis dahin eben den Autor – erfolgen kann. Die umfangreichen Inputs, Vorschläge und aufgeworfenen Fragen erforderten die Installierung eines Gremiums, innerhalb dessen diskutiert und nach sowohl theoretisch konsistenten als auch im Feld anwendbaren und hilfreichen Lösungen gesucht werden konnte. 2015 wurde dann auch ein Board installiert, dessen Aufgabe die Entwicklung des IC4 sein sollte. Das Ergebnis seiner Arbeit liegt nunmehr vor.

Was hier skizziert wurde, ist ein komplexer Prozess der Modellbildung in Abstimmung mit dem Praxisfeld sowie hochschulbasierter Diskussion, die auf die Kompatibilität mit theoretischen Anschlüssen bedacht war und ist. Das sozialdiagnostische Verfahren spielt dabei die Rolle eines Rasters, der Bezugsrahmen für beide Seiten ist. Änderungen am Raster bedürfen einer doppelten Legitimation: sie müssen sowohl im Praxisfeld weiterhelfen, als auch theoretisch anschlussfähig sein, dürfen diesbezüglich keine groben Unsauberkeiten beinhalten. Jede Änderung muss sich in das theoretische Framework einfügen können bzw. muss mit einer Überarbeitung dieses Frameworks kombiniert sein. Dieses Framework wurde von Anfang an nicht als gegeben gesetzt. Seine Erklärungsmacht musste und muss sich über den Weg der Anwendung des Instruments an und in der Praxis der Sozialen Arbeit beweisen. Tut sie das nicht, dann hat nach unserem Verständnis der theoretische Ansatz ein Problem: Er bildet offensichtlich die Soziale Arbeit nicht adäquat ab. Das ist Anlass für eine Revision oder Erweiterung.

Die größte Revision, die auf Grund des beschriebenen Wechselspiels eingeführt werden musste, war die Ausweitung auf insgesamt 3 Achsen – und damit der Verzicht auf die Vorstellung, dass sich die Tätigkeit der Sozialen Arbeit alleine auf Basis der soziologischen Systemtheorie hinreichend beschreiben ließe.

Zur Arbeit an der Terminologie

Ein Problem, an dem seit der Version 1 zu arbeiten war, war die unterschiedliche Verwendung von Begriffen im Rahmen der theoretischen Diskurse einerseits, der Sozialarbeitspraxis andererseits. Bei der Entwicklung des Instruments waren daher im Laufe der Zeit sprachliche Anpassungen an die berufliche Alltagssprache vorzunehmen, um Fehlinterpretationen zu minimieren. Dadurch ging zwar terminologische Stringenz verloren, jedoch wurden Fehleinschätzungen in der Anwendung deutlich verringert und der angemessene Gebrauch des Instruments für PraktikerInnen ermöglicht, die mit den theoretischen Bezügen und Diskursen wenig vertraut sind.

Ein Beispiel: Auf Achse 1 wird zum einen von „Inklusion“ und „Exklusion“, zum anderen von „Teilhabe“ gesprochen. Das Begriffspaar Inklusion / Exklusion ist in diesem Zusammenhang theoretisch umstritten (sh. dazu Merten 2004, der anstelle von „Exklusion“ die Verwendung des Terminus „Nicht-Inklusion“ vorschlägt). Der Terminus „Teilhabe“ wiederum entspringt einem anderen theoretischen Zusammenhang und ist genau genommen mit dem Bedeutungshorizont von „Inklusion“ nur bedingt vergleichbar. Für die Sozialarbeitspraxis spielen diese Unterscheidungen im Zusammenhang der Anwendung des Verfahrens allerdings keine nennenswerte Rolle. Mit der Verwendung des Begriffs „Teilhabe“ gelingt sogar eine Verdeutlichung dessen, worum es bei der Kartographierung der Lebenslage geht: Um die tatsächliche Nutzung gesellschaftlicher Infrastruktur. Was als theoretische Unsauberkeit erscheinen mag, dient hier einer Betonung der Essentials im Praxiszusammenhang. Dieser pragmatische Umgang mit der Terminologie schließt die auf das Instrument bezogenen theoretischen Diskussionen nicht aus, die permanent geführt werden – er ist allerdings Ausdruck einer Entscheidung des Boards für die Priorität der Nützlichkeit.

Nicht nur zwischen Theorie und Praxis ist eine unterschiedliche Bedeutung von Begriffen festzustellen. Auch innerhalb der theoretischen Diskussion zur Sozialen Arbeit werden Begriffe je nach „Schule“ mit unterschiedlichen Bedeutungshorizonten verwendet. Das ist ein Problem für Ansätze, die wie das IC zwar eine Auswahl aus den zur Verfügung stehenden theoretischen Ansätzen treffen, sich trotzdem nicht nur einer Theorietradition oder Schule zugehörig fühlen. Wir gehen davon aus, dass Theorien des Sozialen im Allgemeinen, der Sozialen Arbeit im Besonderen, jeweils bestimmte Aspekte abbilden, andere aber ausblenden (müssen). Ein Instrument, das für die Anwendung in der Praxis geschaffen wird und den Anspruch hat, nicht nur Ausschnitte der Fallsituationen (hier: der Lebenslage der KlientInnen) abzubilden, wird daher auf mehrere unterschiedliche theoretische Frameworks zurückgreifen und sie anpassen müssen.

Begriffliche Klarheit im Praxiskontext der Sozialen Arbeit muss anderen Anforderungen entsprechen, als Termini im Zusammenhang von Theorien. Die theoretischen Bezüge, auf die im IC referiert wird, sind solche, die nicht aus der Sozialen Arbeit kommen, sondern aus anderen oder breiteren Kontexten: Die Systemtheorie aus der Soziologie, die Lehre von den Bedürfnissen aus der Philosophie bzw. der Anthropologie oder der Sozialökonomie, die Theorien zur Funktionsfähigkeit aus den Gesundheitswissenschaften. Bei einer Anwendung im Kontext der Sozialen Arbeit sind Anpassungen nötig, um jene Aspekte, die in diesem beruflichen und Aktionsfeld relevant sind, zu betonen und andere auszublenden (sh. dazu Pantuček 2010a). Es besteht dabei nicht der Anspruch, die Herkunftstheorien zu „korrigieren“. Wie bei jeder Anwendung sozialwissenschaftlicher Großtheorien zur Strukturierung praktischer Tätigkeiten muss jedoch eine gewisse Banalisierung in Kauf genommen werden – vgl. dazu die klassischen Studien zur Anwendung sozialwissenschaftlichen Wissens bei Beck und Bonß 1989.

Es sei darauf hingewiesen, dass selbst das ICD-10 weitgehend einer pragmatischen Sichtweise folgt. Die Zuordnung von Diagnosen geschieht vorwiegend phänomenologisch und bleibt relativ neutral gegenüber Erklärungen.

Allzu strenge erkenntnistheoretische Maßstäbe können demnach nicht an ein Instrument angelegt werden, das zwar eine hohe theoretische Sättigung aufweist, das aber primär für den Praxiseinsatz konzipiert wurde und dort theoretisch hinreichend uneindeutig sein muss, um von PraktikerInnen mit Ausrichtung an unterschiedlichen „Schulen“ gleichermaßen verwendet werden zu können.

Nach unseren nun doch schon recht zahlreichen Erfahrungen mit kontrollierter Praxis der IC-Anwendung ist aber davon auszugehen, dass eine erfolgreiche Anwendung auch durch PraktikerInnen mit anderen theoretischen Vorlieben gut möglich ist und funktioniert, dass damit keine Festlegung der Fachkräfte auf eine (z.B. systemtheoretische) Sichtweise zwangsläufig verbunden ist.

Eine Phänomenologie der Praxis

Die Fragestellung, die bei der Konstruktion eines diagnostischen Verfahrens zu beantworten ist, ist nicht nur eine erkenntnistheoretische bzw. eine der Kompatibilität mit einem theoretischen Modell. Eine theoretische Überdeterminierung hätte sogar eine Reihe von Nachteilen.

Daher waren bei der Konstruktion ständig gestellte Fragen,

  1. ob es in der Dimension sozialarbeiterische Handlungsmöglichkeiten gibt,
  2. ob es beobachtbare Handlungsvarianten gibt, deren Gegenstandsbereiche nicht abgebildet werden, und
  3. ob nicht-abgebildete Handlungsvarianten innerhalb dieses Verfahrens abgebildet werden sollten oder nicht

 

Wenn die Frage eins bei einer Dimension verneint werden muss, ist die Dimension zu streichen – es sei denn, sie ist als Abbildung einer ungemein wichtigen Rahmenbedingung, die in Aktionsentscheidungen jedenfalls einfließt, unverzichtbar bzw. bei ihrem Fehlen wäre nicht mehr nachvollziehbar, wie geplante Aktionen begründet werden können. Das trifft jedenfalls auf die Dimensionen 3.A, 3.B und 3.D zu.

Die Frage 2 ist jedenfalls zu bejahen. Es gibt Aktionen und Interessensbereiche der Sozialen Arbeit, die nicht im Instrument abgebildet werden. Das trifft zum Beispiel auf die Aktionen zu Beziehungsgestaltung und Beziehungspflege oder Aktionen zur Hilfe zur Alltagsbewältigung, die unterhalb des Levels gezielter Veränderung liegen, zu. Diese Aktionen bzw. Handlungsbereiche der Sozialen Arbeit werden im Instrument nicht abgebildet und es hat auch nicht den Anspruch, sie abzubilden.

Damit ist auch eine Antwort auf die 3. Frage gegeben: Einige weitere Dimensionen sozialarbeiterischen Handelns bzw. der Fallbeurteilung wurden Schritt für Schritt in das Chart integriert, was zum Wachstum seit der 1. Version und zur Erweiterung auf drei Achsen geführt hat. Andere Typen von sozialarbeiterischen Interventionen bleiben unabgebildet. Dies betrifft (exemplarisch) zum einen Handlungsdimensionen, die basal sind und sich weniger auf die Lebenssituation der Klientinnen beziehen, mehr auf die Herstellung der Bedingungen der Möglichkeit professioneller Hilfe – zum Beispiel den Beziehungsaufbau; zum anderen betrifft das Handlungsformen, die in den Grenzbereich zu psychotherapeutischen Interventionen vorstoßen. Damit ist keineswegs eine Delegitimierung dieser Handlungsformen beabsichtigt. Das Instrument fokussiert auf den sozialen Status der KlientInnen bzw. auf die Analyse ihres Lebensführungssettings. Dabei soll es auch bleiben. Eine Ausweitung seines Fokus würde es nach unserer Einschätzung aufblähen und seine kooperative Anwendung erschweren. Es kann und soll andere Verfahren der Reflexion und der Einschätzung nicht ersetzen. Einige sozialdiagnostische Verfahren können in Bezug auf das IC4 als Verfahren der Differentialdiagnostik gesehen werden – so zum Beispiel die Netzwerkkarte (www.easyNWK.com) als Instrument für eine differenzierte Diagnostik der Dimension 2.D.

Das Instrument weist inzwischen einen hohen Reifegrad auf. Trotzdem ist es wahrscheinlich, dass die Entwicklung damit nicht an einem Ende angekommen ist. Praxiserfahrungen werden dafür sorgen, dass die Diskussionen weitergehen.